Impressionen einer Fussreise
"Bewegung tut dem Körper gut. Regelmässiges Wandern, neue Landschaften entdecken, Begegnungen mit anderen Menschen, das wär’s doch. Solche und ähnliche Gedanken brachten mich im Januar 2021 auf die Idee, wandernd unterwegs zu sein. Wieso nicht die Schweiz so quasi diagonal per pedes ablaufen, genauer: von meinem Wohnort Laufen BL bis zu meinem Bürgerort Stierva GR, von der Nordwestschweiz in den Südosten? Das Projekt reifte: 15-20 km in Tagesetappen wandern und am Abend mit öffentlichen Verkehrsmitteln heimkehren. Die genaue Route war nicht vorbestimmt, das würde sich dann schon ergeben.
Insgesamt waren’s 22 Etappen, 16 von Laufen bis Elm und 6 von Stierva bis Elm, wo ich mir selber die Hand gereicht habe. Die zwei grössten Herausforderungen waren die Passübergänge Belchenfluh und der Panixerpass, die ich bei sehr schönem Wetter und ohne Schnee passieren wollte (8.3.2021, 5.9.2021).
Nun liegen die Impressionen meiner ersten Fussreise durch die Schweiz in der Zeitspanne von knapp einem Jahr in Wort und Bild vor. "
Nuglar SO
Der Boden ist feucht, der Tag düster. Der Schnee ist verschwunden. Die Atmosphäre im Wald ist mystisch. Das Geäst kontrastiert mit dem nebligen Weiss. Bizarre kurvige Formen tun sich auf. Die Natur ist Kunst. Unabhängig vom Wetter. Wir schreiben den 31.1.2021.
Apropos Nuglar als Begriff: Er stammt mit grösster Wahrscheinlichkeit von Nussbaum (rätoromanisch nuscher) ab. Die Römer aus Augusta Raurica sollen sich mit Nüssen aus Nuglar verköstigt haben.
Olten - Schönenwerd - Aarau
Ein kalter Februar-Wintertag. Der Aare entlang laufe ich in schnellen Schritten. Die Eiskegelchen, an den Zweiglein klebend, bewegen sich über der Strömung des Flusses. Tanzende Derwische. Zum Begriff (Google sei Dank):
„Derwisch. Mitglied eines islamischen mystischen Ordens, zu dessen Riten Musik und Tänze gehören.“
Ich erinnere mich an eine Filmszene in Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran. Eric-Emmanuel Schmitt schreibt in seinem dünnen Band auf Seite 87: „Und da habe ich zum ersten Mal die sich drehenden Männer gesehen. Die Derwische trugen lange, helle, schwere, weiche Gewänder. Eine Trommel erklang. Und die Mönche verwandelten sich in Kreisel.“
Lachen SZ
Eine Erkenntnis, die sich während der Fussreise durch das Mittelland immer wieder von neuem bestätigt: Es wird momentan gebaut, was das Zeug hält. Nicht selten laufe ich an älteren Häusern vorbei, die mit Profilen ausgestattet sind. Höher und breiter soll es werden, verdichtetes Bauen lautet das Modewort. Dass die Mietpreise steigen und steigen und die Investoren, die vielleicht in Paris, London oder anderswo hocken, in übertriebenem Masse profitieren, versteht sich von selbst.
In Lachen reihen sich Blöcke an Blöcke, die kürzlich aus dem Boden gestampft wurden.
Momentan stehe ich unter dem Eindruck der spannenden Lektüre achtung: landschaft schweiz von Hans Weiss (AS Verlag, 2020). Das Kapitel Wird die Schweiz kaputtgebaut wird mit einem Zitat von Armin Meili (1892-1981), Architekt, Landschaftsplaner und Politiker eingeleitet:
„Für mich und viele Gleichdenkende ist die liederliche Versteinerung unseres Landes eine der grössten Sorgen, denn sie bleibt.“
Glarus
Nichts deutet beim ersten Blick auf den Landsgemeindeplatz hin. An seiner Stelle findest du einen grossen Parkplatz vor. Und wo gibt’s ein urchiges Gasthaus am geschichts-trächtigen Ort? Du wirst nicht fündig. Dagegen lockt die barocke Inschrift Glarus Kebab hungrige Gäste an. Im Innern bestaune ich ein eindrückliches Bild von der uralten Stadt Mardin in Südostanatolien. Auf die Stadt angesprochen, kommt der Wirt ins Schwärmen.
Vor ein paar Jahrzehnten war’s anlässlich eines Besuches der Landsgemeinde die traditionelle Glarner Kalberwurst, heute geniessen meine Frau und ich etwas Orientalisches.
Der Panixerpass
(2407 m ü.M.) birgt für Wanderer Gefahren. Trittsicherheit und Ausdauer sind gefragt. Es gibt auf der Bündnerseite Abschnitte, auf denen man nur auf einem schmalen Pfad läuft. Bei schlechtem Wetter und Schneetreiben könnte man die offizielle Route schnell einmal verlieren und die steilen Hänge hinunterstürzen. So geschah es Teilen der russischen Armee unter ihrem General Alexander Wassiljewitsch Suworow im Oktober 1799.
Arnold Spescha, mit dem ich im schriftstellerischen Austausch stehe, hat darüber ein Buch mit dem Titel Weltgeschichte auf der Dorfbühne (Somedia Buchverlag, 2020) geschrieben. Er beschreibt darin auch die Ankunft der russischen Resttruppe in seinem Bürgerort Pigniu/Panix:
„Und da kommen sie, die Soldaten, in Scharen, von Ranastga herunter, ein Zug ohne Ende. Menschen in zerfetzten Uniformen, viele barfuss und hinkend. Unterkühlt und hungrig. Da wird genommen, wo es hat. Ohne böse Absicht, aber ohne Rücksicht. Es wird geplündert mit dem Schrei der Verzweiflung und mit dem Schrei der Freude, noch am Leben zu sein.“