Leseproben
provas da liger
Hanna die Südtirolerin
(2013)
Am Vorabend
Dunkle Nacht war hereingebrochen. Morgen wars soweit. Ab in die Schweiz. Nach Salouf in Graubünden zur Adelina, Mutters Freundin, die mit einem Demarmels verheiratet war. Schon fast eine Schweizerin …
Der Koffer gepackt, nur das Nötigste war darin. Adelina hatte für Hanna eine Stelle bei Bauern gefunden und es nach Matsch gemeldet. Eine gewissenhafte Stellenvermittlerin. In Salouf durfte Hanna vorerst für ein paar Wochen bleiben und im Haushalt helfen, sich sozusagen ans fremde Land gewöhnen.
Mutters Knödelsuppe hatte heute besonders gut geschmeckt. Die Eltern waren aber schon etwas anders als sonst, weniger gesprächig. Sie wiederholten ihre Ratschläge: anständiges Benehmen, fleissig sein und zum Heiland beten.
Allerlei Gedanken gingen Hanna durch den Kopf. Das war also die letzte Nacht im Murrahaus vor dem grossen Abschied.
Ein Stück andere Bergwelt weit hinter dem Ortler würde sie erwarten. Es sollte hoffentlich nicht alles ganz anders werden. Wäre da nicht die fremde Sprache, die Sorgen bereitete, eine komische, kaum zu verstehen. Zum ersten Mal hatte sie diese in Müstair gehört, klang irgendwie italienisch.
Es war sonderbar ruhig im Haus, der Saldurbach mit seinem Schmelzwasser rauschte kräftig.
Die Eltern, die vielen Geschwister, sie würden ihr sicher fehlen. Vor allem der Vetter Sepp, der herzensgute Grossonkel. Auch das Hundegebell von den Höfen, auch das würde sie in der Ferne vermissen, einfach alles.
Hanna wurde es schwer ums Herz.
Nein, ihre Eltern wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Ihretwegen sollte sich vor allem der Vater, der Volksschullehrer, nicht schämen … in Matsch, Mals, in der ganzen Umgebung.
Auf dem neuen Posten als Magd nahm sie sich fest vor, den Haushalt fleissig zu besorgen, zu fegen, zu kochen, die Wäsche zu machen. Auch ausser Haus wollte sie sich kräftig einsetzen, wenns sein musste, auch das Vieh hüten, beim Heuen behilflich sein, Kartoffeln ernten, alles tun, wenn sie es von ihr verlangten.
Ob sie in der Schweiz drüben das Wasser auch noch am Brunnen holten? Andere Leut, andere Sitten?
Sie würde es schon meistern, redete sich Hanna mehrmals ein. Morgen in der Früh gings unweigerlich los …
Hanna la Tirolra
(2013)
Avant la partenza
La notg era no. Igl de siva stuev’la parteir per la Svizra. A Salouf, cantun Grischun, tar Adelina, ena cumarata dalla mamma, maridada cun en Demarmels. Schon prest ena Svizra…
La valischa preparada, ma angal cugl essenzial. Adelina veva catto ena plazza per Hanna tar pours ed annunztgia chella nova a Matsch. Ena intermediadra propi cunsenztgousa! A Salouf ò Hanna pudia star anc en pêr emdas, gidar far igl tigneirtgesa e s’andisar alla tera estra.
La soppa da canedels, per en lung taimp la davosa, gustava scu anc mai. Igls genitours ruschanavan pi pac tg’igl solit, eran simplamaintg oter. Els repetevan lour cunsegls: sa cumportar agl ester sainza macla, esser diligenta ed urar.
Da totta schort patratgs gevan a Hanna tras la testa. Igl era oramai la davosa notg ainten la tgesa digls Murra avant igl grev adia.
Igl nov datgesa la spitgiva gliunsch davos igl Ortler. Speranza erigl betg da s’andisar ad ensatge digl tottafatg different. Ma igl lungatg schi ester la fascheva chitos, el era spezial e grev d’ancleir. L’amprema geda veva ella santia a discorrer chel a Müstair, el sumigliva en tant agl taliang.
Igl era pi calm tg’igl solit ainten tga, igl ual Saldur cun la massa ava premavanga ramurava mordio.
Igls genitours, igls numerous fardagliuns, chels per franc pi bod u pi tard la mantgevan. Surtot igl Vetter Sepp, en om da fitg bung cor. Ma er la canera da tgangs dallas curts tutgiva alla patria, agl ester franc ensatge oter.
Igl cor da Hanna fascheva grev.
An nign cass leva ella desillusiunar igls genitours, cunzont betg igl bab, igl scolast, tgi vess stuia sa turpager perveia dad ella a Matsch, Mals e conturn.
Segl nov post scu fantschela Hanna veva ferms propiests da far tot andretg: nattager, cuschinar, far la glischiva. Ord tga veva ella sumigliaintamaintg an senn da s’angascher cun totta energeia disponibla, perfign schi niva cumando da tgirar la biestga, da far fagn, raccoltar tiffels. Simplamaintg tot igl pussebel era ella pronta da far.
Niva l’ava da bever chior an Svizra er anc purtada davent dalla truasch? Otra gliout ed oters usits?
Tot chegl vigna schon an urden, scheva Hanna savens per sasezza.
La dumang marvegl stueva ella parteir digls sies, igl era definitiv …
Der Alte Russ
(2019)
Auswandern
Indes wuchs Peter unter der Pflege seiner praktischen und verständigen Eltern auf, wurde stark an Leib und Geist. Er mochte so das Alter von 17 Jahren erreicht haben, als ein Geschäftsfreund seines Vaters, der sich zufälliger Weise in Alvaneu-Bad aufhielt, bei diesem vorsprach. Dieser Freund nun besass in Odessa (Russland) ein grosses Kaffeehaus verbunden mit Patisserie und Weinhandel, er war wieder im Begriff dorthin zurückzukehren. Bei diesem Besuche des Müllers wurde er auch des jungen, kräftigen Peters gewahr und fand Gefallen an ihm. Er fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, mit ihm nach Russland zu kommen? „Gewiss“, war die Antwort, „sofern meine Eltern damit einverstanden sind.“ Auch diese zeigten sich damit einig, obgleich sie ihr einziges Kind damit entliessen und so reiste unser Peter nach einigen Vorbereitungen und dem Segen der Eltern mit dem Engadiner fort, nach dem weitentlegenen Odessa. [1]
Allerlei Gedanken beschäftigten Peter beinahe Tag und Nacht nach der spontanen Entscheidung auszuwandern. Jahre würde er seine lieben Eltern und Verwandten, seine Freunde, sein Alvaneu, seine paar Tiere im Stall und seine Katze „Min“ nicht mehr sehen.
Würde es überhaupt ein Wiedersehen geben?
Und dann die lange Reise, die bevorstand, drückte heftig aufs Gemüt, ein nicht ganz ungefährliches Unternehmen:
Ab Linz soll’s mit einem Floss Donau abwärts gehen, erzählte der Engadiner. Peter konnte nicht schwimmen, die nicht selten schäumende Albula in Alvaneu-Bad jagte ihm ja auch immer grosse Angst ein.
Viel Unbekanntes würde er jedoch auf der langen Reise erleben.
Er hatte auch noch nie in seinem bisherigen kurzen Leben eine Stadt gesehen, nicht einmal Chur. Städte seien gefährliche Orte, hörte er im Dorf immer wieder sagen. Diese Angstmacherei kam häufig aus dem Munde des Kapuzinerpaters.
Abenteuerlust hatte beim Entscheid mitgespielt. Die Geschichte von Robinson Cruso war sogar in die Alpen vorgedrungen. Eine in den Augen von Peter fesselnde Abenteuergeschichte.
Peter tröstete sich bei aufkommenden Zweifeln: Er war ja nur einer von so vielen Bündner Auswanderern. Der Engadiner hatte im Gespräch mit den Eltern ein paar Engadiner Geschlechter wie „Castelmur“, „L’Orsa“ und „Robbi“ erwähnt, die in Osteuropa gut Fuss gefasst hätten. Auch sie hätten die Sprache der Einheimischen rasch gelernt.
Peters folgenschwere Entscheidung sprach sich in Alvaneu und in den Nachbardörfern wie der Blitz herum. Die einen teilten Peters Mut, andere verstanden den Jungen nicht: Für das einzige Kind eines Müllers mit einem dazugehörigen kleinen Bauernbetrieb wäre eine Existenzbasis doch gegeben. Und so schlecht stand es um die Balzers der Tschessa lunga auch wieder nicht, die schlimmen Franzosenjahre waren quasi überstanden. Trotzdem hiess es überall: „Schlechte Zeiten, unsichere Zeiten.“
Hadern nützte nichts mehr. Sein Vater und der Engadiner hatten per Handschlag Peters Entscheid besiegelt.
Mit dem Handschlag alleine war’s allerdings nicht getan. Der Engadiner setzte noch ein Schreiben auf. In diesem „Vertrag“ musste sich Peter während der fünfjährigen Lehrzeit im Conditorenfach zu unbedingtem Gehorsam, zu Treue, Aufrichtigkeit und Fleiss verpflichten. Schlechtes Benehmen, Nachlässigkeit sowie andere negative Auffälligkeiten würden geahndet und väterlich bestraft werden. Im Gegenzug verpflichtete sich der Engadiner für die Hälfte der Reisekosten von Alvaneu-Bad bis Odessa aufzukommen und für Kost und Logis, Kleidung, Wäsche sowie ärztliche Hilfe und Pflege besorgt zu sein.
„Der Vertrag ist, so Gott es will, für beide Parteien von Nutzen“, wandte der Engadiner noch ein, bevor er um die Unterschriften bat.
Vater, Sohn und Meister unterschrieben am Schluss den Vertrag vorbehaltlos.
Nun gab es kein Zurück mehr. Der Vater bestärkte den Willen seines Sohnes, indem er wiederholt mit einer etwas schwermütigen Stimme meinte:
„Tot vign bung, te ast agl ester daple pussebladads. Dia at protegia – Alles kommt gut, du hast in der Fremde mehr Möglichkeiten. Gott beschützt dich.“
Die Eltern baten ihren Sohn inständig um regelmässigen Briefverkehr. Die Mutter sprach kaum mehr und versank in Gebete. Je näher der definitive Abschied rückte, umso mehr sah Peter Tränen in den Augen der lieben Mutter. Diese Szenen zerrissen dem Jungen beinahe das Herz.
Die Mutter versuchte sich selber und ihren Sohn zu trösten:
„Denke, Peter, an die Worte deines zukünftigen Patrons, dass vor dir schon unzählige Bündner fremdes Brot gegessen haben. Wenn Gott will, kommt alles gut. Bete jeden Tag das Vaterunser. Gott beschützt die Seinen – Dia protegia igls sies.“
[1] „Erinnerungen aus dem Leben eines Graubündners“, Emil Balzer (Enkel von Peter Balzer), 1919. Ein 36seitiges von Hand geschriebenes Dokument.